Toxische Führung erkennen - bevor deine Energie schwindet

Toxische Führung ist oft unerkannt und hat schwerwiegende Folgen für die betroffenen Menschen. In diesem Artikel zeigen wir dir, wie du die Warnsignale rechtzeitig erkennst, was du selber tun kannst und bieten dir praktische Hilfestellungen.

Martina Talamona | Martin Talamona

11/30/20245 min read

Es ist wieder Sonntagabend und dein Magen verkrampft sich beim Gedanken an das Meeting morgen früh. Du hast vielleicht sogar Angst vor der neuen Arbeitswoche?
So ähnlich geht es wohl vielen arbeitstätigen Menschen, denn fast jede zweite Person fühlt sich bei der Arbeit emotional erschöpft.

Das ist keine Vermutung, sondern Realität: 43.8% der Erwerbstätigen in der Schweiz berichten von emotionaler Erschöpfung bei der Arbeit. Jede dritte Person fühlt sich häufig oder sehr häufig gestresst. Neben den persönlichen Schicksalen bedeutet dies auch eine Belastung für die Schweizer Volkswirtschaft: Und zwar 7.6 Milliarden Franken. Jährlich.

Doch eben. Hinter diesen Zahlen der Gesundheitsförderung Schweiz und des SECO stehen am Ende Menschen. Menschen wie du und ich. Und in vielen Fällen steckt hinter ihrer Erschöpfung ein bestimmtes Muster: toxische Führung.

Eine versteckte Epidemie?

Verlässliche Zahlen sind in diesem Bereich schwierig zu beschaffen. Und wenn, dann basieren sie auf Studien und Berichten die, wie so oft, selber wieder viele Fragen aufwerfen.

Dies liegt z.B. an den komplexen Ursachen von Kündigungen und der oft unterlassenen Dokumentation von toxischem Verhalten als Kündigungsgrund. Auch scheuen sich betroffene Mitarbeitende, über ihre Erfahrungen zu sprechen, aus Angst vor Repressalien oder weil sie sich schämen. Und schliesslich gibt keine einheitliche Definition von toxischem Führungsverhalten, was Vergleiche erschwert.

Nichtsdestotrotz beschäftigten wir uns intensiver mit der Datenlage aus unterschiedlichen Quellen (siehe Ende des Artikels) und für uns ergab sich folgendes globales Bild:

  • Bis 40% der Mitarbeitenden nennen schlechtes Führungsverhalten als direkten Stressfaktor

  • Bis 50% der Mitarbeitenden haben bereits toxisches Führungsverhalten erlebt

  • Fast 40% haben deswegen schon den Job gewechselt

  • 44% der Unternehmen haben trotzdem keinen transparenten Umgang mit psychosozialen Risiken und schweigen stattdessen darüber

Die Harvard Business School kommt zu einem klaren Schluss: Toxische Unternehmenskultur, geprägt durch destruktives Führungsverhalten, ist der mit Abstand wichtigste Grund für Kündigungen - mehr als zehnmal wichtiger als das Gehalt.

Wenn es persönlich wird

Eindeutiger zeigen sich die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen. Einige Schicksale kennen wir persönlich. Kolleginnen und Kollegen aus unserer eigenen beruflichen Laufbahn, oder Betroffene, die wir heute begleiten aus verschiedensten Umfeldern.

In diesem Artikel geht es darum, ein Umfeld mit belastenden Führungssituationen zu erkennen und die schleichende Zersetzung der eigenen Energie zu verhindern.

Wir nennen es deshalb toxische Führung, weil sich in den uns bekannten Fällen der emotionale Missbrauch in der Arbeitsbeziehung über längere Zeit hinzieht.

"Bin ich zu sensibel? Übertreibe ich? Vielleicht liegt es ja wirklich an mir?"

Wenn du dir diese Fragen bei der Arbeit öfters stellst, dann ist die Antwort vermutlich Nein. Möglicherweise bist du in einer toxischen Arbeitsbeziehung gefangen.

Und damit bist du nicht allein, auch wenn es sich bis jetzt vielleicht so angefühlt hat. Das liegt am perfiden Kleid mit dem sich toxisches Verhalten tarnt.

Die Mechanismen toxischer Führung

Aus psychologischer Sicht und in den Schilderungen aus den Unternehmen sehen wir folgendes Muster:

Phase 1: Die Vertrauensphase

Die Führungskraft baut gezielt eine enge Vertrauensbasis auf. Sie vermittelt dir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Du erhältst vertrauliche Informationen und besondere Aufmerksamkeit.

Phase 2: Die subtile Demontage

Die Führungskraft nutzt dein Vertrauen nun, um erste Zweifel zu säen. Deine Arbeit wird plötzlich kritischer gesehen. Die besondere Aufmerksamkeit wird zum Kontrollinstrument. Dokumentationsanforderungen steigen.

Phase 3: Die systematische Destabilisierung

Die Führungskraft dreht die Situation: Deine Reaktion auf die kritische Behandlung wird zum eigentlichen Problem erklärt, vom Opfer wirst du systematisch zum Täter. Sie stellt sich dir gegenüber als deine einzige Unterstützung dar, während sie dich vor anderen als schwierigen Fall präsentiert.

Phase 4: Die vollständige Verunsicherung

Der toxische Mechanismus erreicht sein Ziel: Du bist schwer verunsichert, isoliert und energielos. Die Führungskraft kontrolliert dein Leben, während sie dich nach aussen weiterhin fördert. Der Teufelskreis bleibt unsichtbar.

Die gesundheitlichen Folgen

Die WHO und die Internationale Arbeitsorganisation dokumentieren die gravierenden Auswirkungen:

  • Klinisch relevante psychische Belastungen entwickeln sich

  • Messbare körperliche Veränderungen treten ein

  • Das Burnout-Risiko steigt rasant

Die perfekte Fassade

Das Perfide: Nach aussen bleibt alles hochprofessionell. Die Führungskraft erscheint als:

  • besonders fürsorglich ("Ich mache mir Sorgen um dich")

  • sehr unterstützend ("Lass uns das gemeinsam angehen")

  • hochkompetent ("Ich weiss, wovon ich rede")

  • ausgesprochen teamorientiert ("Wir sind hier eine Familie")

Die Warnsignale

Es ist wichtig die Signale früh zu erkennen und gut darauf zu achten. Das gibt dir die Möglichkeit frühzeitig etwas zu unternehmen.

Persönliche Ebene:

  • Du überprüfst ständig deine Wahrnehmung

  • Meetings verursachen körperliches Unwohlsein

  • Selbstzweifel nehmen überhand

  • Schlafstörungen treten auf

Organisatorische Ebene:

  • Zunehmende Kontrolle und Dokumentation

  • Die Beziehungen im Team werden gezielt gestört (gegeneinander ausgespielt)

  • "Coaching" wird als Druckmittel eingesetzt

  • Fürsorglichkeit wirkt manipulativ

Der Weg zurück zu dir selbst

Der erste Schritt ist das Erkennen und Akzeptieren:

  • Nein, du bist nicht überempfindlich

  • Nein, es liegt nicht an dir

  • Ja, deine Wahrnehmung ist korrekt

  • Ja, du kannst etwas ändern

Die Forschung zeigt: Je früher Betroffene handeln, desto geringer sind die langfristigen Auswirkungen.

Konkrete Handlungsstrategien

1. Dokumentation aufbauen

  • Führe Protokoll über kritische Situationen

  • Sichere wichtige E-Mails und Dokumente

  • Notiere Gespräche mit Datum und Inhalt

2. Unterstützungsnetzwerk aktivieren

  • Vertraue dich Menschen ausserhalb des eigenen Systems an

  • Suche dir professionelle Hilfe

  • Bleibe in Kontakt mit ehemaligen Kolleg*innen

3. Grenzen setzen

  • Bestehe auf schriftlicher Kommunikation

  • Nimm eine Person deines Vertrauens in Gespräche mit

  • Dokumentiere deine Leistungen systematisch

4. Für dich sorgen

  • Plane regelmässige Auszeiten

  • Aktiviere deine Ressourcen

  • Pflege Beziehungen ausserhalb der Arbeit

Warum eine begleitete Auszeit wichtig ist

Doch was kannst du tun wenn die Situation schon weit fortgeschritten ist?

Entscheidend für eine Chance auf Heilung ist der Abstand zum toxischen Umfeld. Eine professionell begleitete Auszeit kann dir helfen:

  • wieder auf deine innere Stimme zu hören und ihr zu vertrauen

  • deine Wahrnehmung zu schärfen

  • deine Grenzen neu zu setzen

  • Manipulationsmuster zu erkennen

  • Handlungsstrategien zu entwickeln

Ein persönliches Wort zum Schluss

Als Psychologin und Coach und in der Begleitung und Entwicklung von Organisationen sehen wir toxische Dynamiken aus unterschiedlichen Perspektiven. Während einer von uns die komplexen, systemischen Strukturen sieht, die Menschen zermürben, weiss die andere um die psychologischen Auswirkungen und den Weg zurück zu sich selbst. Diese sich ergänzenden Blickwinkel sind in unsere "Mehr leicht"-Retreats eingeflossen.

Im schützenden Rahmen des Safientals, begleitet von der kraftvollen Bergwelt, schaffen wir einen Raum für Reflexion und Neuorientierung. In kleinen Gruppen von maximal 5 Personen unterstützen wir dich auf deinem eigenen Weg im Umgang mit toxischen Arbeitsbeziehungen und der Erarbeitung der oben erwähnten Punkte.

Die gute Nachricht: Mit der richtigen Unterstützung und Strategie ist ein Ausstieg aus toxischen Dynamiken möglich.

Du fühlst dich von diesem Thema betroffen?

Mehr zum Thema:

Die in diesem Artikel genannten Daten stammen aus aktuellen Studien der folgenden Institutionen:

  • Staatssekretariat für Wirtschaft SECO: Stressstudie 2023

  • Gesundheitsförderung Schweiz: Job-Stress-Index 2023

  • Harvard Business School: "Toxic Culture Study" 2022

  • WHO/ILO: "Guidelines on Mental Health at Work" 2023

Publikationen: